Ehemaligen Fachgruppe "Kontextuelle Informatik"

Technik für Menschen gestalten

Als vor über 30 Jahren die Planungen für das Heinz Nixdorf Institut begannen, war klar, dass es unter den sieben Stiftungsprofessuren auch ein Fachgebiet Informatik und Gesellschaft geben sollte. Bis heute ist unstrittig, dass Studierende, speziell der Ingenieurwissenschaften, allgemeine Ethikgrundlagen und Kenntnisse bezüglich der Wirkungen und Auswirkung ihrer Produkte haben sollten.

Die Frage aber, welche Art von Forschungsmethodik und Forschungsgegenstand ein solches Fachgebiet der Informatik aufweisen sollte, ist bis heute weitgehend offen. Die Heterogenität gesellschaftlicher Problemstellungen und die damit verbundenen unterschiedlichen Kompetenzanforderungen über verschiedene Disziplinen hinweg erschwerten die Ausprägung eines kohärenten Selbstverständnisses.

Als im Jahr 1992 diese Stelle besetzt wurde, stand die Begründung eines geeigneten Forschungsansatzes auf der Tagesordnung. Statt die nahezu unübersehbaren und vielfältigen Auswirkungen der Informatik auf die Gesellschaft in den Blick zu nehmen, wurde die Forschungsperspektive auf das Konzept der Wechselwirkungen zwischen Informatiksystemen und ihrem Entwicklungs- und Einsatzumfeld fokussiert. Warum sind Wechselwirkungen so entscheidend? Für viele Ingenieurdisziplinen verkörpert Technologie die Materialkunde, d.h. die naturwissenschaftlichen Merkmale und Eigenschaften, die für die Konstruktion von technischen Geräten und Systemen von Bedeutung sind. Das Verhalten des Materials ist dabei unabhängig von den Erwartungen und Annahmen sowohl der Nutzer wie auch der Entwickler.

Das ist in der Informatik anders. Ihr „Material“, aus dem die Systeme konstruiert werden, ist Text. Symbolische Beschreibungen dienen einerseits zur Kommunikation zwischen Anwendern und Entwicklern sowie zur Modellierung des Problembereichs, andererseits aber auch zur Formulierung von Maschinen-Operationen, deren formale Ausführung der Steuerung komplexer Prozesse in Technik, Wirtschaft und Verwaltung dient. Im Rahmen der Modellierung werden diesem Material vielfältige Annahmen eingeprägt, die sich auf menschliches Verhalten beziehen und zwar in weitaus größerem Maß, als dies in anderen Ingenieurbereichen der Fall ist. Das Verhalten eines Informatiksystems ist in diesen Fällen nicht mehr unabhängig vom Verhalten von Menschen und dieses ändert sich mit dem Einsatz der Software, den damit einhergehenden Lernprozessen sowie anderen Veränderungen im Einsatzumfeld. In der Folge ist das Modell dann nicht mehr adäquat und muss angepasst werden – neue Versionen entstehen. Diese Wechselwirkungen gilt es frühzeitig zu erkennen und zu verstehen, um sie bei der Entwicklung einer Version so weit wie möglich berücksichtigen zu können.

Ein entscheidender Unterschied zum Begriff der Auswirkung liegt darin, dass Wechselwirkungen rückbezüglich sind, sie also einen Einfluss auf die Informatik-Systeme haben und daher bei deren Gestaltung angemessen erfasst werden müssen. So wurde ein Fachgebiet innerhalb der Informatik begründet, das diejenigen Wirkungen in den Fokus nimmt, die sich mit Mitteln der Informatik beeinflussen lassen. Folglich ging es in der Forschung vorrangig um die Frage, wie Fehlannahmen bei der Modellierung und Entwicklung von Systemen im Rahmen einer hypothesengeleiteten Technikgestaltung von vornherein vermieden werden können bzw. Entwicklungsprozesse derart offen gestaltet werden können, dass Fehler als Erkenntnismittel dienen und so in einen kontinuierlichen Weiterentwicklungsprozess – beispielsweise durch evolutionäre Systemgestaltung – einfließen können. Mit der Änderung der Denomination in „Kontextuelle Informatik“ sollte bezüglich der Forschungsaktivitäten die damit verbundene Konzentration auf Wechselwirkungen im Kontext von Herstellung und Nutzung verdeutlicht werden.

Um die entsprechenden Wechselwirkungen ins Blickfeld nehmen zu können, wählten wir als Themenfeld die Unterstützung von Wissensarbeit durch Computer, denn sie manifestiert sich besonders prägnant beim Gebrauch (Software-Ergonomie), dem Lernen (E-Learning), dem kooperativen Arbeiten (CSCW) oder auch heute in den digitalen Geisteswissenschaften (E-Humanities). In all diesen Prozessen, wo es um die Modellierung der Unterstützung geistiger Tätigkeiten des Menschen geht und nicht um die Modellierung der kognitiven Prozesse selbst, braucht es konzeptuelle und methodische Grundlagen, um Gestaltungshypothesen herleiten und überprüfen zu können.

Dafür ist ein zweistufiger Ansatz erforderlich. Zum einen gilt es, technische Potenziale auf der Basis einer kontrastiven Begriffsbildung zu identifizieren. Kontrastiv bedeutet dabei, nicht Mensch und Maschine zu vergleichen, als wären sie zu einander funktional äquivalente symbolverarbeitende Systeme, sondern die Unterschiede der Prozesse zu betrachten, die sie jeweils zu dem machen, was sie sind (Evolution vs. Konstruktion). Das Ziel ist es, Schwächen des Menschen zu ersetzen und seine Stärken zu unterstützen. Zum anderen muss eine solche Sicht mit Fragen der Praktikabilität im Nutzungskontext verknüpft werden, denn Potenziale, die nicht situationsgerecht gestaltet oder in der Nutzung nicht verstanden werden, können keinen Mehrwert entfalten. Hier stehen Aspekte wie Alltagstauglichkeit, Nachhaltigkeit, durchgängige Verfügbarkeit und Erweiterbar- bzw. Modifizierbarkeit im Vordergrund. Ethisch entscheidend war für uns dabei immer, die Anzahl der Wahlmöglichkeiten bezüglich der Nutzung zu erhöhen und die Umsetzung der jeweiligen technischen Lösungen zu verbessern.

Durch diese kontextuelle Sichtweise haben wir Lösungen konzipiert und umgesetzt, die sich vom „Mainstream“ deutlich unterschieden: Statt in den 1990er Jahren auf interaktive Lerncomputer zu setzen, entwickelten wir lernförderliche Infrastrukturen; statt die Nutzung hochwertiger Lehrmaterialien auf CD zu propagieren, setzten wir als Erste in Deutschland das WWW in Lehrveranstaltungen ein. Wir konstruierten real wie auch virtuell kooperationsunterstützende Lern- und Arbeitsräume sowie hybride Labore. Die dabei gewonnenen Erfahrungen vertieften wir – meist in interdisziplinärer Kooperation – im Kontext unterschiedlichster Anwendungsfelder, die von regionalen Bildungsnetzen und der betrieblichen Weiterbildung über historische Forschungen zum Weltkulturerbe bis hin zur Erstellung historisch-kritischer digitaler Musikeditionen reichen. Trotz der vielen damit verbundenen Erfolge scheint sich das Fachgebiet zumindest in der Forschung überlebt zu haben. Zum einen werden viele Forschungsfragen jetzt im Kontext der jeweiligen Anwendungsszenarien wie z. B. „social media“ (Algorithm Watch, Sozioinformatik) betrachtet. Zum anderen wenden sich heute auch benachbarte Disziplinen, wie die Wirtschaftsinformatik, verstärkt empirischen Ansätzen für eine hypothesengeleitete Technikgestaltung zu.

Unabhängig davon, wie diese Entwicklung weitergeht, haben wir im Rahmen unserer Aktivitäten im Heinz Nixdorf Institut vor allem auch mit den von uns explizit gesetzten Werten wie Alltagstauglichkeit und Nachhaltigkeit technische Infrastrukturen aufgebaut, die unseren Forschungszweck weit überdauert haben und noch heute in der Region (bid-owl), in der Stadt (Lernstatt Paderborn) oder bis vor Kurzem in der Universität (koaLA) im Einsatz sind.